Das Netz als rechts- und moralfreier Raum?

Fake-News, Cybermobbing, Hasskommentare wohin man schaut. Das Netz und die Nachrichten über das Internet sind voll von Meldungen, in denen direkt vom world-wide-web als rechtsfreiem Raum gesprochen wird oder in denen diese Sicht argumentativ gestützt wird.

Meist wird dabei ein moderner und in diesem Zusammenhang moralisch aufgeladener Dualismus unterstellt: Das Nebeneinander von zwei völlig getrennten Lebenswelten. 

Auf der einen Seite die uns vertraute, sichere und gute materielle Welt. Hier findet vermeintlich das echte Leben statt. Hier begegnen wir uns persönlich und gehen rücksichtsvoll miteinander um. Auf der anderen Seite das verrohte und kriminelle Netz, in dem Kinder verdummen und moralisch verkommen. 

 

Die Gegensätze stehen beispielhaft auch für ein Unverständnis der Generationen: Hier die Älteren, die mit Technik vielleicht umgehen können, die diese aber nicht zu ihrer persönlichen Identität benötigen. Dort die Jugendlichen, deren Leben nie ohne Neue Medien stattgefunden hat und die Bedenken und Skepsis der Älteren kaum nachvollziehen können.

Ist dieser Graben, der häufig in der Debatte aufgezeigt wird, zu banal und oberflächlich? Unbedingt. 

Ein Dualismus zwischen analogem und digitalem Leben zu postulieren ist ebensowenig sinnvoll wie hilfreich. Aufwachsen und Leben am Beginn des 21. Jahrhunderts findet in einer Welt statt, die bunter, vielseitiger, vielschichtiger und heterogener ist, als alle Zeiten vor uns. Wir leben in aufregenden und spannenden Zeiten voller Möglichkeiten – technischen und nicht-technischen; aber immer Teil einer Welt!

Auch die Zerrissenheit der Generationen in Bezug auf Technik ist lediglich eine unzutreffende Vereinfachung. In Wahrheit ist unser Umgang mit der Moderne so vielseitig, wie die Menschen, die in ihr leben. Während einige Technikpioniere der ersten Stunde nie müde wurden, Fortschritte zu begleiten, gibt es eine Gegenbewegung junger Menschen, die sich technischem Über-Enthusiasmus bewusst entzieht. 

Der Ruf nach und die Warnung vor einem moral- und rechtsfreien Raum im Netz ist daher zugleich eine unzulässige Vereinfachung der vielfältigen und häufig positiven Entwicklungen und fußt zugleich auf Bedenken, die nicht geleugnet werden können oder relativiert werden sollten. Cybermobbing, Hatespeech, Fakenews, online-Kriminalität – all das geschieht natürlich und ist höchstproblematisch. Es ist aber kein Ausdruck eines amoralischen Lebensraums, sondern Ausdruck moralischer Probleme, die wir als Menschen mit und in uns tragen – unabhängig von der technischen Möglichkeit eines world-wide-web.

Platons Mythos vom Ring des Gyges erzählt eine Geschichte, die aktueller kaum sein könnte. Der Philosoph, der vor über 2000 Jahren lebte und wirkte, berichtet in der Politeia von dem Hirten Gyges, der einen Ring findet, mit dessen Hilfe er sich unsichtbar machen kann. Er nutzt die Unsichtbarkeit, um sich eine Stellung am Königshof zu verschaffen, die Königin zu verführen und tötet schließlich den König, um selbst den Thron zu besteigen. Eine Geschichte über die menschliche Natur, die Verführung der Anonymität und der Macht, welche in Zeiten der Unsichtbarkeit im Netz eine erstaunliche Aktualität besitzt.

Während wir technisch in den mehr als 2000 Jahren seit Platons Tod gewaltige Fortschritte erzielen konnten, ringen wir scheinbar bis heute mit ähnlichen moralischen Fragen und Problemen wie die antiken Philosophen. 

Doch uns wurden nicht nur Fragen gestellt, sondern auch eine Fülle an Lösungsvorschlägen angeboten. Platon selbst, Aristoteles, Mark Aurel, Augustinus, Anselm von Canterbury, Thomas von Aquin, Francesco Petrarca, Martin Luther, Thomas Hobbes, Jeremy Bentham, Immanuel Kant, Max Weber, Albert Schweitzer und hunderte andere Denker, Philosophen, Soziologen, Psychologen und Vertreter vieler Fachrichtungen mehr bieten einen reichen Schatz an Erklärungen und Lösungsvorschlägen. 

Das Netz und die Geräte die wir nutzen sind weder eine eigene Welt noch rechtsfreie Räume. Diese Denkmuster helfen uns nicht mit den Herausforderungen unserer Zeit umzugehen. Sie sind lediglich der Ausdruck eines Versuchs eine schier unfassbar schnelle Entwicklung und Komplexität mit Hilfe greifbarer Muster zu veranschaulichen. Neue Ethiken für diesen neuen Raum braucht es also nicht, um diesen als menschlichen Handlungsraum moralisch zu machen.

Eine neue Ethik, sofern wir sie so nennen möchten, basiert auf unserem Erfahrungsschatz vergangener Zeiten und wir haben die Aufgabe sie für unsere Lebenswelt nutzbar zu machen. Neu werden dabei vielleicht weniger ihre Grundprinzipien oder ihr Geltungsbereich sein, aber ihre Notwendigkeit angesichts unserer technischen Möglichkeiten. 

Wenn wir Angst vor einem unbeherrschten, technisch aufgerüsteten aber moralisch verkommenen Gyges haben, sollten wir der ethisch-philosophischen Grundausbildung aller Schülerinnen und Schüler höchste Bedeutung beimessen. Technikverweigerung auf der einen oder unreflektierte und unkritische Nutzung auf der anderen Seite – in der Schule oder zu Hause – werden den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts darum nicht gerecht. 

Kritischen, fachlich sowie methodisch fundierten und immer auch ethisch reflektierten Zugang zu der einen Welt in der wir Leben zu schaffen, ist daher aus meiner Sicht zentrale Aufgabe moderner Bildung.


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